Katja Petrowskaja

Foreign authors
29/02/2016 - 28/03/2016
Katja Petrowskaja

Katja Petrowskaja (b. 1970) was born in Kiev and studied in Estonia, Moscow, New York, and San Francisco. Since 1999 she has lived and worked in Berlin. Petrowskaja writes in German.

She debuted in 2014 with Vielleicht Esther (Maybe Esther; Suhrkamp), a story of her search for her origins and the members of her family who were Jewish victims of Nazism and Stalinism. Through conversations, archival research, and visits to the scenes of the events, Petrowskaja tries to rescue her fragmented family from a nameless past and investigates several tragic episodes in recent history.

The book has received a number of awards, including the Ingeborg Bachmann Prize (the leading prize for debut novels in the German-speaking world), the Aspekte-Literaturpreis, and the Premio Strega Europeo. It is being translated into twenty languages. The English world rights have been sold to Harper Collins (US) and Fourth Estate (UK).

In March 2016, Katja Petrowskaja will spend four weeks in Passa Porta's writers' flat at the Place du Vieux Marché aux Grains. She is one of three German-language writers staying in Brussels as a writer-in-residence in 2016, in connection with the Dutch and Flemish role as Guests of Honour at the Frankfurt Book Fair.

Authors' text

Es war sonnig draußen, es roch nach Frühling

„In meiner kranken Fantasie wurde diese Stadt zu einem lebendigen bürokratischen Formular, das zum Glück noch nicht ausgefüllt war." Aus einem Brief von Z.

Alte Meister Wie viel alltägliches Leben gibt es am Tag einer Katastrophe? Wie viel Katastrophe und Verbrechen stecken in jedem normalen Alltag? Gehören wir zur Katastrophe, wenn wir sie nicht gesehen haben, und sind verschont? Und wann wird sie vergehen? Das Bild „Sturz des Ikarus" von Pieter Bruegel aus dem Museé des Beaux Arts in Brüssel zeigt ein unlösbares Dilemma der Menschheit. Es ist nicht die Ignoranz, durch die der Bauer und der Gaffer nicht merken, dass dort ein Junge aus dem Himmel fällt. Selbst der Betrachter bemerkt nicht die Leiche im Gebüsch. Das Bild erzählt von der Gleichzeitigkeit des Geschehens. Ikarus, der zu nah an die Sonne herankam, stürzt ins Wasser, und obwohl dies das Wichtigste ist, das hier geschieht, steht im Zentrum des Bildes ein Bauer, der die Erde pflügt, um sein tägliches Brot zu verdienen. Von Ikarus sind nur zwei Füßlein, die gerade noch aus dem Wasser ragen, am rechten Rand des Bildes zu sehen. Sonst ist alles in Ordnung, die untergehende Sonne, das davonfahrende Schiff, die idyllische Landschaft, das Panorama eines ganz normalen Tages. Aber die Tragödie gibt dem Bild den Namen und den Sinn, obwohl sie nicht im Zentrum der Komposition steht.

Dienstag, 22. März 2016 Es war sonnig draußen und roch nach Frühling. Es gab jedoch keine Geräusche. Dienstag 13 Uhr. Fünf Stunden nach den Anschlägen. Ungewöhnlich still. Auf der Straße war kaum jemand zu sehen. Nur ab und zu Alarmsignale von Polizeiautos, die in der Stille die Luft noch schärfer durchschnitten als sonst. Keine Busse, keine Plauderei auf den Straßen, nicht einmal Kinder. Auch die Schule war abgeriegelt. Manchmal sah ich Eltern, die Kinder abholten. Ich musste mich strecken, um in alle Richtungen aus dem Fenster zu schauen, ich wollte sichergehen, dass die Welt noch besteht. Aber ja, am Place du Vieux Marché aux Grains rodeten Straßenarbeiter Bäume. Es war der Anfang des europäischen Frühlings, vielleicht. Die schönen zarten Äste fielen zu Boden, entblößte Bäume erhoben ihre Fäuste Richtung Himmel. Vielleicht war es wegen Schlingensief, dass es mir vorkam wie das Ende der Zeiten: Stille, und an ihrer Peripherie eine sich mir nähernde Säge.

Das Boot Seit Stunden las ich Nachrichten, mit dem Gefühl, dass es bitte, bitte nicht wahr sein könne. Explosion im Flughafen und im U-Bahnhof Maelbeek, zwei Kilometer von mir entfernt. 26 Tote, über 70 Verletzte, sagte das Radio, ungezählte Betroffene. Alle Bahnhöfe sind geschlossen, die Flughäfen evakuiert. Der Premierminister sagte: Bleibt, wo ihr seid, und ich blieb zu Hause. Freunde von überall her schrieben mir. Ich war in Sicherheit, I am safe, erstarrt und ohnmächtig von den Bildern und Videos im Internet, die sofort nach den Explosionen gemacht wurden. Ein merkwürdiger Tag: Terror in Brüssel, und am anderen Ende des europäischen Geländes die Verurteilung der ukrainischen Pilotin Nadija Sawtschenko zu 22 Jahren Haft: Damit hat sich Russland zum Terrorstaat mit Schauprozessen erklärt. Es gibt unterschiedliche Arten, Menschenleben zunichtezumachen. Tag der Einheit: Durch Furcht und Trauer sind wir in einem Boot, schrieb eine Freundin, lasst uns hoffen, dass es nicht „Titanic" heißt. Oder gehören die da bei uns im Osten nicht zum Bild?

Nostalgie Als die Krankenhäuser schon Blutspenden sammelten und die Twitter-Initiative #ikwillhelpen mit Fahrdiensten Menschen in dieser gelähmten Stadt dabei half, von der Arbeit nach Hause zu kommen, auch Zehntausende Touristen blieben stecken, fragte ich mich, als ich Hunger verspürte: „Suppe oder Leben?" Einerseits galt die höchste Sicherheitsstufe im ganzen Land, andererseits hatte ich jedoch nichts zu essen, ich grübelte und konnte wirklich nicht verstehen, was jetzt „normal" war: essen zu gehen, wenn man hungrig ist, oder darauf zu verzichten, weil die Gefahr existiert, weil es nun theoretisch immer die Gefahr gibt, besonders heute in Brüssel. Aber meine Angst schien mir zugleich völlig irrational zu sein, wie vielleicht auch Tausenden anderen Menschen. Die Zufälligkeit der Opfer vermittelte: Es kann immer, überall und mit jedem passieren, es war eine Zerstörung der Normalität. Soll man nun immer Angst haben? Ich ging auf die Straße. Draußen gab es doch ein paar Menschen, weniger als sonst, sie bewegten sich langsamer und schauten sich gegenseitig aufmerksam an, als wären wir alle neu geboren. Viele Geschäfte und Lokale waren geschlossen, und Verkehr gab es tatsächlich nicht. Mein Liebling, ein Blumenverkäufer, saß da, mit seinen Lilien und ignorierte mich, wie immer, als wäre nichts passiert. Das „Nordzee" war zwar geöffnet, aber ohne Kunden, und auf der Ecke standen zwei Schwule in solch einer Umarmung, dass sich mein Herz krampfte, vor Freude und Einsamkeit. Erst in diesem Moment verstand ich, dass ich genau in der Mitte des Liedes von Jacques Brel „Bruxelles" stand: „Sur les pavés de la Place Sainte-Catherine, / Dansaient les hommes les femmes en crinoline". Es wäre schön, heute bei den Liebsten zu sein. Im Lokal „Charlie" streichelte eine Frau ihren dicken Bauch - noch ein paar Tage, und das Kind ist da. Radio Nostalgie spielte alles, von den Beatles bis zu Kate Bush, auch wir hatten am Anfang der Perestrojka ein „Radio Nostalgie" als einen der ersten nichtstaatlichen Radiosender, - so war ich plötzlich in doppelter Sehnsucht gefangen. Ich aß, und alles in mir schrie, dass ich esse, deswegen existiere ich. Ich lebe so wie diese Menschen um mich herum, und es geht alles weiter, irgendwie, in dieser unserer Welt, die wir sehr ungenau als Europa bezeichnen. Die junge Frau, die draußen vorbeiging, trug einen antiken Bilderrahmen über der Schulter. Dann kam ein Penner und bettelte, und die Sonne schien. Eine Freundin, die heute früh aus dem Brüsseler Flughafen evakuiert worden war, meldete sich - sie wollte nach Indien fliegen, sie wurde nun nach Leuven gebracht. Ich war noch nie in Leuven, eine schöne Stadt. Und dann öffnete ein Mädchen die Tür, kling-klang, bonjour-bonjour - wie ein Zitat aus „Amélie". Sind wir Helden der Normalität?

Gestern. Montag, 21. März Eigentlich ist alles in diesem „Gestern" geblieben, auch mein Text über Brüssel, den ich schreiben wollte und fast fertig hatte. Über das Wetter, das so wechselhaft und launisch war, wie die Idee von Europa, über die Zeit, die in den Falten der Stadt hauste und sich akkumulierte, und diese Zeit, diesen Kram der Geschichte, konnte man auf den Flohmärkten kaufen, über diese charmante Provinzialität, die etwas Heimisches in sich trägt. Oder über die Hände auf den Bildern von Rogier van der Weyden oder Memling, über die Obdachlosen, die hier noch viel internationaler als in Berlin sind. Ich wollte über den kafkaesk großen Justizpalast erzählen, ein großzügiger Speicher der Gerechtigkeit, der zugleich Raum für die Sujets vom „Prozess" und vom „Schloss" bot. Über vier Tage von Byron und drei Vorlesungen von Baudelaire, ich wollte über Waterloo schreiben, um zu erklären, was eigentlich eine gemeinsame historische Landschaft ist, dafür reicht eine Schlacht und ein Buch. Oder über einen Grabstein von einem Pfarrer aus St. Catherine, der in Nagasaki missionierte, um dann später in Auschwitz zu sterben, kurz bevor auch sein Nagasaki vernichtet wurde. Ich wollte über Brüsseler Spitzen erzählen, die in russischen Gedichten vorkommen, und dass der Monat sich Richtung Ostern entwickelt mit dem Musikfest „Klarafestival", das in der Stadt lief und beworben wurde mit dem Motto „Erbarme dich!". Dass das Leiden manchmal das Einzige ist, das uns alle verbindet. Ich wollte schreiben vom Marionettentheater im Théâtre de Toone, in dem ich „La Passione" gesehen habe, im lokalen Marolles-Dialekt gespielt, wie ein Kind saß ich in der ersten Reihe, und die Puppen schauten mich an, auch Jesus.

Erbarme dich! Aber angesichts der Anschläge erscheint alles entwertet, unbedeutend und stumm, außer dem Slogan des „Klarafestivals". Die Anschläge eroberten das ganze Bild und ließen mir für die Normalität nur noch so viel Platz wie für das Spritzen des Wassers um die Füße des Ikarus. Noch gestern bin ich diese U-Bahn-Strecke gefahren, heute waren andere Menschen da und starben. Gestern war ich bei einem Treffen in der Nähe des Europäischen Parlaments. Im U-Bahnhof La Trône stiegen viele Menschen aus, eine bunte Mischung aus Nationen, Berufen und sozialen Schichten, von diesem Platz aus fuhren viele Busse in die Vororte. Mir fiel ein Riese auf, der einen roten Bauarbeiter-Overall mit der Aufschrift „Karma Construction" trug. Er sah verbittert und aggressiv aus. Ich dachte an Krieg in Jugoslawien. Als ich mit der U-Bahn zurückfuhr, strömte in La Trône aus den Lautsprechern das Adagio aus der 5. Symphonie von Gustav Mahler und an der nächsten Station, Arts-Loi, ein Nocturne von Chopin und vermischte sich mit dem Flämischen und Französischen der Wartenden. Ich war einer der wenigen Weißen auf dem Bahnsteig und fühlte mich wohl. Obwohl das nur die Klassik-Schlager waren, und überhaupt, wurde ich sentimental und wiederholte: „Was für eine Stadt!" - und nahm alles auf dem iPhone auf. Am nächsten Tag, als sich in der Stadt nichts mehr bewegte und keine Busse in die Vororte fuhren, dachte ich: Wie kommt mein Karma-Mann nach Hause?

Zukunft Als ich damals, Anfang März, in der dichten Menschenmenge an den Cafés vorbeilief, hatte ich das Gefühl, dass ich noch eines Tages in all diesen Cafés sitzen und alles probieren werde, dass ich noch so viel Zukunft habe, denn mit einer neuen Stadt ist es wie mit einem neuen Menschen - die Begegnung verläuft in Form einer puren obsessiven Neugier, denn alles ist noch unbestimmt, und genau das bedeutet Zukunft. Ich war niemals zuvor in Brüssel und durfte den ganzen Monat hier verweilen, ganz im Zentrum, nicht weit von der Bourse, wo nun Hunderte Menschen mehrere Tage und Nächte dicht beieinanderstanden, um zusammen zu sein und sich durch ihre physische Präsenz gegen die Gewalt zu wehren, eine Menge mit so einem Reichtum an Gesichtern und Menschentypen, die ich nicht einmal in New York oder Amsterdam gesehen habe. Als ich angekommen war, war dies ein surrealistisches Gelände, auf den Treppen der geschlossenen Börse saßen Menschen, manchmal fanden kleine Demonstrationen statt, die Massen strömten vorbei, da der Anspach Boulevard, eine der wichtigsten Verkehrsadern der Stadt, zu einer vierspurigen Fußgängerzone gemacht worden war, die an einem alten Haus mit Coca-Cola-Leuchtreklame endete. An einem normalen Tag ging ich zum Maison de la Francité, um etwas Französisch zu sprechen, zusammen mit Albanern, Saudis, Engländern und vielen anderen. Wir spielten ein Kinderkartenspiel. Eine Karte ziehen und beschreiben: ein Zirkus, ein Junge mit Zauberstab, wir sollten schnell sein, auf dem Tisch lag eine Spielzeug-Bombe und tickte, wir sollten immer den roten Knopf drücken. Ich weigerte mich, und ein Mann fragte, warum? „Je suis pacifiste", sagte ich, und er sagte: „Ich war im Krieg." - „In welchem?" - „In Tschetschenien." Und ich sagte: „Ich bin aus der Ukraine." Wir sprachen nicht mehr, aber wir waren die Einzigen in der Runde, die das Wort „le cauchemar" („Albtraum") erkannten, da das auch auf Russisch existiert.